Mein Interesse an Fragen des Verfassungsrechtes war „irgendwie” 2018 „über mich gekommen”, doch dass ich mit ernsthafter damit beschäftige ist jüngeren Datums. Das kam so:
Der Westen zerfällt, die EU bröckelt, das linke und liberale Programm hat sich in Wokeness und Identitätspolitiken verlaufen und, was schlimmer ist, es ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit. War es, das Programm, ehemals eine „Kritik der politischen Ökonomie”, so weiss es nicht – oder nur sehr wenig – von dem, was heute die Welt bestimmt. Immer noch werden die analytischen Instrumente aus dem aufkommenden Industriezeitalter bemüht, um damit einer Ökonomie der Ökologie beizukommen, dem Begriff der Arbeit in der Digitalisierung, den Fragen der Verteilung in Zeiten der Finanzindustrie. Knapp daneben ist auch vorbei. Diese Instrumente sind gut für das Archiv, nicht aber für unser Zeitalter der technologischen Beschleunigung.
Das Ergebnis ist: Verwirrung!
Suchbewegungen, Verschwörungsgeraune, Bauchnabelphilosophie. Wo, diese Frage schwebt wie im Nebel über den Gesellschaften, wo ist der Punkt, an dem sich die Welt aus ihren falschen Angeln hebeln liesse? Es braucht einen Ansatz, genügend radikal und hinreichend allgemein, mit demsich die Fundamente einer Gesellschaft des 21. und besser gleich des 22. Jahrhunderts ausbilden liessen.
Zunächst nur für mich selbst hatte ich „die Verfassung” als einen solchen Ankerpunkt erkannt, je mehr ich mich aber damit befasste, desto deutlicher wurde, dass es „in diesem Thema” grummelt, dass es zwar noch diffuse, immerhin aber vielfältige Bestrebungen gibt, dieses Grundverständnis der deutschen Gesellschaft einmal gründlich aufzuräumen und, wer weiss, auf diesem Wege auch für „grössere regionale Konstellationen” anwendbar zu machen.
Wer aber, nächster Schritt, seine Geschichte nicht kennt, ist dazu verdammt, usw., usf.. Es macht also Sinn, dorthin zu schauen, wo „der ganze Schlamassel” einmal angefangen hat – um von dort aus dann darüber hinaus denken zu können.
Darum, um diese historische Weichenstellung, geht es in der Rede von Florian Meinel. Diese, nämlich die feierliche Antrittsvorlesung am Lehrstuhl für vergleichendes Staatsrecht und Politische Wissenschaft der Göttingener Georg-August-Universität, hielt der Verfassungsrechtler und Rechtsphilosoph Florian Meinel am 13-VI-2024. Sie ist auf YouTube zu sehen. Ein Jahr später (ich habe davon erst jetzt erfahren), sozusagen abgehangen wie ein gutes Steak, kann man sehen, dass sie über den Tag hinaus trägt, mehr noch.
Diese Rede ist der Hammer!
In ihr behandelt Meinel ein besonderes und ein besonders deutsches Stück Rechtsgeschichte, nämlich die Unterscheidung von Besitz und Eigentum. Je nun, möchte man denken, soo spektakulär ist der Gedanke nicht, wir lernen das schon in der Schule! Die historischen Wurzeln, so die Google-KI, reichen zurück bis in das römische Recht, wo das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis erstmals gesetzlich geregelt wurde, um das Eigentum des Eigentümers gegenüber dem tatsächlichen Besitzer zu schützen.
Das Thema scheint also zunächst oll und staubig, wurmstichig gar, wenn man seiner Genesis in den Bibliotheken der Welt nachspürt. Und überhaupt: Die Sharing Economy und – sowieso – jeder Mieter weiss, worum es geht.
Lohnt soviel Aufhebens?
Ein Anfangsverdacht könnte lauten: l’Art pour l’Art – mit irgendwas müssen Juristen sich ja beschäftigen. Ich mach mal ein Beispiel, das den Verdacht füttert: Im Grundgesetz gibt es den Art. 23 (Verwirklichung der Europäischen Union), dessen Absätze 1-7 zusammen 442 Wörter umfassen. Verglichen mit etwa dem Art. 17 (Petitionsrecht, 26 Wörter) ist der 23, sagen wir: redselig. Dann aber, um zu klären, was denn in dem Artikel „eigentlich” drin steht, werden „Kommentare” geschrieben, die auch das letzte Komma ausdeuten. Der „Dreier” ist so ein Kommentar (… Frau Brosius-Gerstorf hat massgeblich mitgewirkt). Hier wird der Art. 23 auf 53 (drei-und-fünfzig!) Seiten erläutert, mit 431 Fussnoten; in Summe etwa 30.000 Wörtern; und, wenn ich das persönlich ergänzen darf: die Leküre ist quälend, alles andere als lesenswert!
Das Beispiel macht deutlich, dass Juristen gerne in die Tiefe der Materie abtauchen.
Nun zu Florian Meinel: er benötigt (nur?) rund 7.500 Wörter für seine Antrittsvorlesung, die sich vor allem mit dem jugendlichen Geniestreich von Friedrich Carl von Savigny beschäftigt, nämlich „Das Recht des Besitzes” aus dem Jahr 1803. Wir haben es zu dieser Zeit bereits mit dem Übergang ins Industriezeitalter zu tun, einer Epoche, die mit den feudalistischen Strukturen zunehmend über Kreuz lag und – von Seiten des Bürgertums – darauf zusteuerte, die Rechtsprinzipien den revolutionär veränderten (Wirtschafts-)Bedingungen nachzuführen. Insbesondere Napoleon führte, nämlich wollte er den französischen Code Civil europaweit ausrollen.
„Am Anfang,” so beginnt Meinel, „waren die Enteignungen.” Historie vollzog sich als „grösste Bodenreform der Geschichte.” In Deutschland herrschte eine sonderbare Mischung aus aristokratischen Ängsten und populistischer Sympathie mit den Versprechungen Napoleons.
„Der Plan war folgender. Die Vermögen der Repräsentanten und Profiteure der alten Verfassungsordnung, vor allem der Kirchen, sollten eingezogen und sozusagen als gewaltiges Sondervermögen genutzt werden, um die Souveränität der großen Flächenstaaten zu stärken, was zugleich einen ökonomischen Innovationsschub bedeutete. Die Gleichzeitigkeit von militärischen Krisen und wirtschaftlich-sozialen Transformationsprozessen machte Souveränität zum Gebot der Stunde.”
Das Zitat vermittelt einen Eindruck von Meinels Verkehrston: historisch in den Fakten, gegenwärtig in der Begrifflichkeit; allein dadurch gelingt ihm bereits eine Übersetzung von abgestandenen Sachverhalten in aktuelles Interesse. Denn, darauf läuft es zum Ende seines Exkurses hinaus: in dieser Zeit, damals, werden die Grundlagen eben desjenigen Rechts gelegt, das uns noch heute konditioniert. Savignys Frühwerk legt dazu das Fundament, in dem es die Begriffe von Besitz und Eigentum neu ausrichtet. Er behandelt „die Unterscheidung zwischen dem Eigentum, also dem Vollrecht an Sachen, und dem bloßen Besitz, das heißt der tatsächlichen Sachherrschaft.”
Denken wir uns zunächst das Land in seinem Urzustand:
Keiner da, Wölfe streifen durch den Wald, der Maulwurf buddelt im Untergrund, der Adler kreist in luftiger Höhe und ein Hase sieht zu, nicht entdeckt zu werden. Schlägt der Fuchs das Rebhuhn, reissen die Wölfe das Rotwild, knabbert der Maulwurf am Wurm, so fragen sie nicht erst: wem gehört das?
Auftritt: der Mensch. Jean-Jacques Rousseau beschrieb den ersten Menschen, der einen Zaun errichtete, um Eigentum zu markieren, als den Begründer der bürgerlichen Gesellschaft; aber das ist etwas ungenau. Mindestens die Hälfte aller US-amerikanischen Western dreht sich darum, dass irgendein Siedler sich an eben einem solchen Projekt versuchte. Doch nach einer Weile kamen marodierende Banden vorbei, brannten die Blockhütte nieder, stahlen das Vieh, vergewaltigten die Frau, ermordeten die Siedler. Das Eigentum erwies sich als blosser Besitz und der wechselte den Besitzer. Die dem zugrunde liegende rechtliche Frage stellte sich nicht erst in Amerika. Die Römer, die Hunnen, die Raubritter, zu allen Zeiten war die Frage von Besitz und Eigentum sozusagen eine dynamische.
Und genau darum, oder besser gesagt: darum, diesen Sachverhalt einmal gründlich und ein für alle Mal zu regeln – das war das Thema, mit dem sich Savigny ausführlich beschäftigte.
„Hat man ein Recht an Dingen, die man nutzt, weil man sie frei nutzen kann? Oder anders gesagt, begründet die menschliche seit der Aufklärung als unendliche Möglichkeit erscheinende Beherrschung der Natur ein individuelles Recht an ihr, das die staatliche Eigentumsordnung nur sichert, aber nicht begründet?”
Bei der Beantwortung der Frage gelang ihm, Savigny, so führt es uns Meinel vor Augen, Epochales:
„Die Rede ist von einer Theorie, die fast 100 Jahre später zur Systemachse des BGB wurde – und es bis heute ist – und die wir im Jurastudium meistens sogar noch vor der Unterscheidung von Eigentum und Besitz kennengelernt haben. Ich meine das sogenannte Trennungs- und Abstraktionsprinzip. … Es besagt, dass Verträge und Eigentum zwei Paar Schuhe sind.”
Es wird dann eine Weile lang ein gerüttelt Mass akademisch; allemal gut anzuhören, aber doch auch als Merkposten etwas sperrig – und ich will das hier nur insoweit auflösen, wie es braucht, um den tieferen Zweck der Operation nachzuvollziehen. Bei dem Trennungs- und Abstraktionsprinzip geht es einerseits darum, dass nicht die Nutzung einer Sache das Eigentum reguliert, sondern die Rechtsordnung. Eigentum ist demnach nichts dem Menschen zugewachsenes, etwa, in dem er Land durch seiner Hände Arbeit urbar gemacht hat. Dabei bleibt es lediglich Besitz – und damit ein nicht selten strittiger Sachverhalt. Zum Eigentum wird es erst, wenn eine Rechtsordnung es dazu erklärt.
Und damit dieser Satz Sinn macht:
Erst der Staat, der die Rechtsordnung sichert, sanktioniert, reguliert, durchsetzt, schafft das Eigentum. Genial also an Savignys Auslegung ist, dass nur die Handlungen/Regelungen über den Besitz zum Reich der Freiheit gehören, Verträge! Das Eigentum dagegen ist unfrei, weil ohne den Staat als sichernde Instanz inexistent.
Und dann versteht man auch, wie dieses Denken in die Zeit passte, damals: Die Bürger können, bitte sehr, unter sich regeln, was sie wollen, und wie sie wollen, nur die Eigentumsverhältnisse sind davon unberührt: und zwar vor allem anderen das adelige Eigentum an Land.
„Savigny interessierte sich für die ökonomische Funktion von Recht übrigens kaum. Auch die Trennung begründet er rein normativ mit der Zweiteilung des Privatrechts in Schuldrecht [Besitz] und Sachenrecht [Eigentum].”
Das ist kein Kleinkram, es ist vielmehr die Grundlage auch des Rechtes heute.
„Obligationen, Verträge gibt es zwischen freien Personen. Sachenrechte, Rechte an der Natur, können dagegen niemals in vergleichbarer Weise intersubjektiv sein, horizontal. Denn, und das ist zentral, sie sind im Kern staatliche Hoheitsrechte.”
Da liegt der Hase im Pfeffer:
Das Eigentum ist ein staatliches Hoheitsrecht. Dass es das ist – vielleicht leuchtet es nicht unmittelbar ein –, zeigt sich vor allem daran, dass der Staat es regulieren kann: er kann enteignen, genehmigen, Auflagen erteilen: der Staat überführt das Eigentum in einen Verwaltungsakt, der auch dann das Eigentum „unfrei” erklärt, wenn der Staat gerade nicht darauf zugreift; er könnte!
„Das Eigentum, das Artikel 14 des Grundgesetzes schützt, ist, anders als die Berufsfreiheit, kein Freiheitsrecht, sondern [nur] eine Bestandsgarantie.” … „Die Form der Freiheit des Eigentums ist also in diesem Rechtsmodell, um es etwas drastisch zu sagen, die öffentlich-rechtliche Genehmigung, auf die es deswegen auch im deutschen Verwaltungsrecht einen besonders fein ziselierten Anspruch gibt.”
Dieser „Dualismus der Eigentumsfreiheit” – Freiheit im Obligationenrecht, Unfreiheit im Sachenrecht – begründet die Architektur des spezifisch deutschen Kapitalismus. Der Marxismus, sagt Meinel, hat es in seiner Analyse nie bis auf die Höhe des BGB gebracht. Hier identifiziert Meinel die tiefere Ursache einer unzureichenden Kapitalismuskritik (siehe Quote): Sie rüttelt beständig an den Vertragspartnern, ohne zu erkennen, dass der eigentliche Adressat ihres Änderungsbegehrens der Staat ist, letztlich die Verwaltung.
Meinels Vortrag zusammenzufassen kann nur schiefgehen: er ist dicht und mehr als nur konsistent in seinen Argumentationslinien; einzelne Stränge zu isolieren, schafft den Sinn behindernde Lücken. Ich empfehle also, den Vortrag selbst zu hören. Es ist – neben seinem Unterhaltungswert auf intellektuell höchstem Niveau – ein beeindruckendes Stück historischer Fundierung einer aktuellen Analyse.
Jetzt wäre noch zu klären, ob auch Meinel – sozusagen – nach der Verfassung greift, um dem heutigen Durcheinander eine haltbare Struktur (wieder-) zu geben; ich bin da unsicher. An anderer Stelle, in einem Text zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes, erklärt er die Politik für zuständig; es kann aber sein, es ist sogar wahrscheinlich, dass er mehr/nur/eher das Bundesverfassungsgericht kritisiert, weil es der Politik durch stete Verrechtlichung aller sozialen Beziehungen den Gestaltungsraum einengt. Dies weiter gedacht könnte auch meinen, dass die Politik für die Arbeit am Grundgesetz zuständig wäre – Meinel sagt das nicht explizit; man könnte ihn so interpretieren. Ich jedenfalls/dagegen traue der Politik kaum bis morgen, geschweige denn bis ins Grundsätzliche. Ich denke vielmehr, Art 20.2 GG, dass alle Staatsgewalt – und damit auch die Grundlagen der Gesellschaft – vom Volke ausgeh … en sollte: von einem Verfassungskonvent vermutlich. Dazu aber, wieder: meine Überzeugung, wäre noch erhebliche theoretische Vorarbeit zu leisten.